Stellen Sie sich vor, Ihre Teams sind so stark aufgestellt, dass es völlig egal ist, wer der Boss ist.
So oder so ähnlich könnte man die Holokratie zusammenfassen. Eine Organisationsform, die in Deutschland noch verhältnismäßig unbekannt ist, jedoch großes Potential für die zukünftige Führung von Unternehmen bietet.
Covid, Angriffskrieg in der Ukraine, Inflation, Klimakrisen – in den letzten Jahren jagt eine tiefgreifende Veränderung die nächste.
Jedes einzelne dieser Ereignisse sowie viele weitere stellen Organisationen in Deutschland vor große Herausforderungen. Denn gefühlt steigt der Rhythmus, in dem sich politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen verändern, kontinuierlich an.
Das bedeutet für Unternehmen: wer unter den volatilen und schnelllebigen Voraussetzungen langfristig bestehen möchte, der muss sich anpassen, um genauso flexibel reagieren zu können.
Nicht zuletzt deshalb gewinnen agile und dynamische New Work-Konzepte an immer größerer Bedeutung. Die Holokratie ist eines der radikalsten unter ihnen.
In diesem Artikel stellen wir den Ansatz der Holokratie genauer vor und zeigen auf, warum die unkonventionelle Art, Unternehmen zu führen, schon bald die neue Norm sein könnte.
Wie ein Beinahe-Flugzeugabsturz zur Holokratie führte
Der Begriff Holokratie stammt aus dem Altgriechischen. Das Wort „Holos” steht für ganzheitlich bzw. vollständig. Die Endung „Kratie” bedeutet Herrschaft bzw. Regierung.
Zusammengesetzt ergeben die beiden Teile die Bezeichnung für ein Managementsystem, das vom amerikanischen Unternehmer Brian Robertson geprägt wurde.
Eine große Inspiration war dabei ein Beinahe-Unfall, den Roberston während seiner Pilotenausbildung erlebte. Ein winziges Warnlämpchen hatte ihn auf einen Defekt der Maschine aufmerksam gemacht. Er verließ sich jedoch auf die restlichen Instrumente im Flugzeug, die keinerlei Probleme aufzeigten. Das Ergebnis: es lag tatsächlich ein Schaden vor, was fast zum Absturz geführt hätte.
Brian Robertson nahm diesen Vorfall zum Anlass, die Entscheidungsketten in seinem eigenen Unternehmen zu hinterfragen. Wie konnte er sicherstellen, dass Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht überstimmen, wenn diese auf eine Problematik hinweisen? Wie lässt sich das Risiko senken, dass Personen mit Fachkompetenz bei Entscheidungsprozessen überhört werden?
Um solche Betriebsblindheit zu vermeiden, führte er das Holokratie-Prinzip im Jahr 2007 in seinem Softwareunternehmen Ternary Software Corporation ein. Dabei orientierte sich Robertson an anderen agilen Methoden wie Kanban und Scrum, die seinem Urteil nach allerdings bei Fragen der Verantwortlichkeit nicht weit genug gingen. So entwickelte er das Konzept stetig weiter und dokumentierte seine Erfahrungen.
Was anfangs als Experiment begann, wurde schließlich 2010 als sogenannte „Holacracy Constitution” veröffentlicht. In dem Regelwerk erläutert Brian Roberston seine Thesen, Erfahrungen und Grundsätze, die die Holokratie ausmachen. Mittlerweile wurde die Anleitung mehrfach überarbeitet und ist mittels offener Lizenz verfügbar.
Was jedoch nicht heißt, dass die Idee der Holokratie als Organisationsprinzip bereits final und starr ist. Die Weiterentwicklung hält kontinuierlich an, besonders jetzt, wo der Ansatz auch international immer mehr an Aufmerksamkeit gewinnt.
Was ist Holokratie und was ist daran besonders?
Holokratie ist ein modernes Arbeitsmodell, bei dem konservative Hierarchien aufgelöst werden. Statt Handlungs- und Entscheidungsprozesse vertikal zu regeln, wird die Verantwortung auf alle Mitglieder einer Organisation übertragen.
Die Verantwortung von Entscheidungen wird nicht mehr nur auf eine Person im Unternehmen übertragen, sondern auf alle Mitglieder der Organisation verteilt.
Dies geschieht in Form einer dezentralen Struktur:
- Rollen – Mitarbeiter werden nicht mehr in klassischen Positionen wie Teamleiter, Manager oder Ähnliches besetzt. Stattdessen werden ihnen eine oder mehrere Rollen zugeteilt, die ihren Fähigkeiten entsprechen.
- Kreise und Unterkreise – Mehrere Mitarbeiter werden in ihren jeweiligen Rollen in sogenannten Kreisen organisiert. Innerhalb eines Kreises werden Aufgaben, Befugnisse und Mitspracherecht klar verteilt, sodass diese eigenständig funktionieren. Gleichzeitig können Kreise anderen, übergeordneten Kreisen angehören, was sie dann zu Unterkreisen macht. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Mitarbeiter in seiner Rolle Mitglied mehrerer Kreise sein kann.
- Meetings – Die Abstimmung innerhalb der einzelnen Kreise erfolgt über Governance Meetings, die sich mit der Struktur des Unternehmens beschäftigen und Tactical Meetings, die sich dem operativen Geschäft widmen. Während dieser Meetings wird mit Hilfe eines Moderators ein strikter Ablauf eingehalten, um unnötiges Abschweifen und Diskussionen zu vermeiden. Individuelle Themen der Teilnehmer werden in sogenannten Check-in- und Check-out-Runden kurz und effizient angesprochen.
Die 4 Säulen der Holokratie?
Damit das dynamische und hierarchiefreie Organisationssystem funktioniert, liegen der Holokratie 4 fundamentale Leitlinien zugrunde:
Doppelte Verbindung (double-linking)
Um sicherzustellen, dass die einzelnen Unterkreise nicht nebeneinander her arbeiten, werden in jedem Kreis ein oder mehrere Vertreter gewählt, die diesen im nächst größeren Kreis vertreten. Diese doppelte Verbindung kann sowohl vertikal, also in über- und untergeordnete Kreise sowie horizontal in benachbarte Kreise erfolgen. Auf diese Weise bleiben die unterschiedlichen Zirkel im Austausch und können die jeweiligen Interessen berücksichtigen.
Trennung von operativen und Steuerungstreffen
Wie eben bei der Strukturierung der Holokratie erwähnt, unterscheidet man bei dem Ansatz zwischen Governance Meetings (Steuerungstreffen) und Tactical Meetings (operative Treffen). Das erlaubt es den jeweiligen Kreisen, sich selbstständig zu organisieren.
Beispielsweise werden während der Steuerungstreffen unter anderem Themen wie Zuständigkeiten und Abläufe der Zusammenarbeit geklärt. Aspekte wie Zeit, Personal oder Finanzen werden dabei absichtlich außen vor gelassen, um Ideen und Strategieentwicklungen nicht frühzeitig auszubremsen.
Bei den operativen Treffen stehen hingegen vor allem aktuelle Fragen des Alltagsgeschäfts auf der Agenda.
Rollenverteilung
Das wohl charakteristischste Merkmal der Holokratie ist, dass die klassische Hierarchie innerhalb einer Organisation komplett durch Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter ersetzt wird. Damit es hierbei nicht zu Spannungen oder gar Konflikten kommt, ist die Rollenverteilung klar geregelt. Das heißt allerdings nicht, dass sie auch in Stein gemeißelt ist. In den Governance Meetings können Aufgaben und Zuständigkeiten regelmäßig reflektiert und zum Beispiel je nach Projekt neu definiert werden. Diese agile Dynamik trägt dazu bei, dass jeder zu jedem Zeitpunkt genau weiß, was er zu tun hat. Gleichzeitig lässt sich so der persönlichen und professionellen Weiterentwicklung einzelner Mitarbeiter besser Rechnung tragen. Indem sie nicht an starre Positionen gebunden werden, können sie ihre individuellen Fähigkeiten flexibel und je nach Bedarf einsetzen. So kann beispielsweise ein Mitarbeiter auch mehrere Rollen in mehreren Kreisen innehaben.
Dynamische Steuerung
Ähnlich anpassungsfähig und gleichberechtigt sind auch Entscheidungsprozesse in der Holokratie. Hierbei findet in jedem Kreis sogenannte integrative Entscheidungsfindung statt. Das bedeutet, dass die Stimme eines jeden Mitarbeiters für das Treffen einer gemeinsamen Entscheidung von Bedeutung ist. Auch hier wird wieder Wert darauf gelegt, möglichst objektiv und erfolgsorientiert zu handeln. Lösungen sollen nicht ideal sein, sondern einen Zweck erfüllen. Stellt sich eine Entscheidung im Nachgang als suboptimal heraus, kann sie in nachfolgenden Feedbackrunden durch die Mitglieder des Kreises korrigiert oder komplett neu erarbeitet werden.
Holokratie hebt New Work auf ein neues Level
Das besondere an der Holokratie ist, dass sie wohl eines der radikalsten Konzepte aus dem New Work Universum darstellt.
Denn im Gegensatz zu anderen Ansätzen greift es nicht nur in einzelne Teilbereiche oder Managementstrategien ein. Stattdessen verändert sich der Führungsstil Unternehmen grundlegend, vom Aufbau über die Organisation bis hin zur Mentalität und Vision.
Dabei werden klassische Hierarchien und alle damit zusammenhängenden Managementstrategien völlig über Bord geworfen. Vielmehr baut die Holokratie im Kern auf einen Aspekt auf, der in der New Work Denke besonders relevant ist: die freie Entfaltung und Eigenverantwortlichkeit von Mitarbeitern.
Welche Vorteile bringt Holokratie für Unternehmen?
- Mitarbeitermotivation – Die Möglichkeit, sich stetig weiterzuentwickeln und sich mit den eigenen Fähigkeiten einzubringen, fördert die Motivation und Potenzialentfaltung der Mitarbeiter massiv.
- Mehr Innovation – Die Dynamik des Holokratie-Modells und die strikte Trennung von Steuerungs- und Budgetfragen tragen dazu bei, dass neue Ideen leichter und intensiver verfolgt werden können. Unkonventionelle Entscheidungen werden nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern können mehrheitlich getroffen werden. So sind mehr Innovationen möglich, als in konservativen Organisationsformen.
- Effizienz – Sowohl die Struktur eines holokratischen Unternehmens als auch die Abläufe im Tagesgeschäft sind darauf ausgerichtet, so effizient wie möglich zu funktionieren. Ziel ist es, Abschweifungen, unnötige Spannungen und andere Störfaktoren, die zu Blockaden und Verlusten von Ressourcen führen, so minimal wie möglich zu halten.
- Dynamik – Bei der Holokratie ist grundsätzlich nichts fest. Sei es die Rollenverteilung, die gebildeten Kreise, Strategien oder Strukturen. Auf diese Weise können Organisationen selbst bei volatilen Rahmenbedingungen agil und schnell reagieren.
Die Holokratie – Lösung mit Zukunft oder ein weiterer Hype?
Bei der Frage, ob die Holokratie DIE Offenbarung oder doch nur ein weiteres von vielen New Work-Modellen ist, liegt die Antwort vermutlich irgendwo dazwischen.
Holokratie ist als Organisationsform noch verhältnismäßig jung und wird stetig optimiert. Es wird wohl noch etwas dauern, bis ihr Bekanntheitsgrad in Deutschland steigt und ausreichend Erfahrungswerte zu ihrer Praxistauglichkeit in der neuen Arbeitswelt gewonnen werden. Das schmälert aber nicht das große Potential, dass die Holokratie für KMU und Großunternehmen bietet.
Sicherlich ist der Ansatz nicht für jedes Unternehmen geeignet. Oftmals erscheint vor allem traditionell orientierten Organisationen der Schritt, konventionelle Führungsstile und Rollenmuster komplett abzuschaffen, zu extrem. Das ist einer der Gründe, warum aktuell eher Startups, NGOs und junge Firmen dazu geneigt sind, holokratische Systeme auszuprobieren.
Start-ups, NGOs und junge Firmen sind Geschäftsmodelle, die dazu neigen holokratische Systeme auszuprobieren.
Das muss aber nicht lange so bleiben. Denn mit dem richtigen Mindset und der Offenheit dafür, eine eigene Interpretation einer Holokratie zu schaffen, können auch größere Unternehmen nachhaltige Erfolge mit diesem New Work-Konzept verbuchen.
Wenn Sie sich fragen, ob holokratische Strukturen in Ihrer Organisation möglich wären oder wie die Umsetzung aussehen könnte, kontaktieren Sie uns gern.